Aratea

Zu Beginn des 9. Jahrhunderts nach spätantikem Vorbild entstanden, genoss die astronomische Handschrift über Jahrhunderte hinweg dauerhafte Beliebtheit. Die mit Gold aufgelegten Sternbilder funkeln wie die Originale, revolutionär ist die Trennung von Text und Bild.

Der aufgeschlagene Band zeigt die Miniatur auf fol. 58v: Orion als großen Jäger.
Der aufgeschlagene Band zeigt die Miniatur auf fol. 58v: Orion als großen Jäger.

Eine Sternstunde Der Buchmalerei

Ein Leitstern des abendländischen Weltbildes

Unter den astronomischen Handschriften aus dem Umfeld der karolingischen Renaissance ist dieAratea aus der Leidener Bibliothek die berühmteste.

Im zweiten Viertel des 9. Jahrhunderts, zur Zeit Ludwigs des Frommen (814–840), wurde ein uns unbekannter Künstler damit beauftragt, nach einem spätantiken Vorbild eine neue Bilderhandschrift zu gestalten. Als Text dienten dem Schreiber Auszüge aus den Phainomena. Dem hohen Anspruch der Handschrift gemäß wurden die Rückseiten der Bilder unbeschrieben gelassen. Die fein ausgewogene Schrift, die sogenannte »Capitalis Rustica«, ist auch für den heutigen Betrachter ausgesprochen gut lesbar.

Da sie aber im 13. Jahrhundert kaum gelesen werden konnte, hat zu dieser Zeit ein Schreiber den Text nochmals in gotischer Schrift kopiert, ein Beweis für die dauerhafte Beliebtheit, die die ArateaJahrhunderte hindurch genossen hat.

Erfüllung uralter Wünsche

So alt wie die Menschheit, so alt ist das Rätsel um die Geheimnisse des nächtlichen Sternenhimmels. Die abendländische Kultur verdankt ihre Vorstellung eines geordneten Himmels den Griechen, die ihrerseits die Sternbilder in ihrem Kreislauf nach orientalischen Vorbildern benannten.

Die Griechen erkannten ihre Mythologien in den Sternen wieder, die schon der Dichtervater der abendländischen Kultur, Homer, besang. Der griechische Dichter Aratos von Soloi (um 310 bis 245 v. Chr.) schuf dann die berühmten Phainomena, ein Lehrgedicht über Himmelserscheinungen und Wetterzeichen. Dieses Werk bezeichnete Kallimachos als das köstlichste Epos der Welt.

Die Römer übernahmen das Werk in ihren Kulturkreis. Es wurde von Claudius Caesar Germanicus ins Lateinische übersetzt. Von dort aus fand es Verbreitung bis ins christliche Mittelalter der Zeit Karls des Großen und war bis zur Ausbreitung der arabischen Astronomie grundlegend für das abendländische Weltbild des nächtlichen Himmels.

Eine kaiserliche Auftraggeberin?

Gemäß kunsthistorischen und paläographischen Forschungen hat die prachtvolle Handschrift ihren Ursprung im späteren Lothringen.

Im frühen Mittelalter waren noch die Erhaltung der Wissenschaften und des klassischen Erbes der Antike die Hauptaufgaben der gelehrten Welt. Die mutmaßliche Auftraggeberin war Kaiserin Judith, die zweite Frau Kaiser Ludwigs des Frommen, eine große Förderin der Künste und Wissenschaften. Bekannt ist sie vor allem durch ihren Kampf für die Rechte ihres Sohnes, Karls des Kahlen.

Später befand sich die Handschrift vermutlich in der nordfranzösischen Abtei Saint-Bertin. Im 16. Jahrhundert kam die Handschrift in den Besitz des Genter Patriziers und Humanisten Jakob Susius, bevor sie von Hugo Grotius wiederentdeckt wurde.

Später gehörte die Handschrift der Königin Christina von Schweden. Diese überließ die Aratea vor ihrer Abreise nach Rom ihrem Bibliothekar Isaac Vossius. 1690 erwarb die Universität Leiden die Handschrift.

Aratea - Faksimile
Aratea – Faksimile

Sternstunden der Buchmalerei

Die Handschrift ist mit 39 ganzseitigen Bildern illustriert. Diese sind nach antiker Tradition fast quadratisch angelegt. Als Hintergrund wählte der außergewöhnlich begabte Künstler, vermutlich vom nächtlichen Himmel inspiriert, ein geheimnisvolles Blau, von einem feuerroten Band eingerahmt. Die Sterne selbst sind mit Gold aufgelegt, so dass sie, abhängig vom Lichteinfall, funkeln wie ihre Vorlagen am realen Firmament in schönen, wolkenlosen Nächten.

Erlesen sind die Darstellungen der Sternbilder, traditionsgemäß versinnbildlicht als mythologische Gestalten und Figuren, unter denen die antike Welt die Sternzeichen sah, die ihre gelehrten Astronomen am Himmel beobachtet hatten. Seit den Jahrhunderten der Frühzeit hatten sie Tageszeiten und Jahreswechsel angezeigt; Seefahrern und Landleuten waren sie Wegweiser und Wetterzeichen gewesen.

Gerade die lebenden Wesen strahlen in der Aratea eine Kraft und Plastizität aus, die dem Einfluss der Antike zu verdanken ist. Geradezu revolutionär zu jener Zeit war das Konzept des Künstlers, Text und Bild zu trennen und jedes Bild separat auf einer ganzen Seite groß wiederzugeben.

Erst Jahrhunderte später werden die besten Maler wieder die Kunst entdecken, eine Figur mit so wenigen Mitteln zu beleben, wie das der unbekannt gebliebene Buchmaler fertiggebracht hat.

Die Faksimile-Edition – Wiedergeburt eines Kunstwerkes

Modernste elektronische Reproduktionsverfahren und eine eigens für die Anforderungen mittelalterlicher Buchmalerei entwickelte Drucktechnik sowie hochqualifizierte Handarbeit nach alter Tradition machen es möglich, von dieser kostbaren Handschrift ein Faksimile herzustellen, das in allen Teilen ein Ebenbild des Originals ist. Die Miniaturen der Aratea sind in ihrer ganzen Pracht wiedergegeben bis hin zu den leuchtenden goldenen Sternen. Auch das Papier entspricht in seiner taktilen Qualität dem Pergament des Originals. Das Blattformat beträgt 22,5 x 20,0 cm. Das 200 Seiten umfassende Werk enthält 39 ganzseitige Miniaturen.

Der Einband aus aufgerauhtem Naturleder entspricht dem heutigen Einband des Originals. Die Faksimile-Edition erscheint in einer weltweit einmaligen Auflage von 980 Exemplaren.

Der Kommentarband

Der Kommentarband mit über 200 Seiten wurde von international anerkannten Wissenschaftlern verfasst, die darin das Ergebnis jahrelanger Forschungen so präsentieren, dass auch dem interessierten Laien der Zugang zu dieser geheimnisvollen Prunkhandschrift erschlossen wird.

Die Experten: Dr. Pieter F. J. Obbema, Conservator Westerse Handschriften, Universiteitsbibliotheek Leiden, Prof. Dr. Florentine Mütherich, Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München, Prof. Bruce Eastwood, Professor für Wissenschaftsgeschichte, University of Kentucky, Lexington, Prof. Dr. Bernhard Bischoff, Professor der Universität München und Thomas A.-P. Klein.

Fol. 16v: Sternbild Zwillinge. Der Legende nach handelt es sich um die beiden thebanischen Zeussöhne, Zethus, den Krieger, und Amphion, den Musikanten, an deren Stelle später Castor und Pollux traten.
Fol. 16v: Sternbild Zwillinge. Der Legende nach handelt es sich um die beiden thebanischen Zeussöhne, Zethus, den Krieger, und Amphion, den Musikanten, an deren Stelle später Castor und Pollux traten.